russische Literatur: Das »goldene Zeitalter«

russische Literatur: Das »goldene Zeitalter«
russische Literatur: Das »goldene Zeitalter«
 
Das »goldene Zeitalter« der russischen Dichtung fällt zeitlich etwa zusammen mit der westeuropäischen Hochromantik. Es umfasst die Regierungszeit Alexanders I. (1801-25) und das nachfolgende Jahrzehnt. Ähnlich wie die Weimarer Klassik ist es gekennzeichnet durch eine Vielzahl gleichzeitig wirkender Talente. Und obwohl im gleichen Zeitraum auch die klassizistische Architektur in Petersburg ihre Triumphe feierte, die erste russische Oper entstand (1836), Theater, Ballett und Malerei bedeutende Namen und große Erfolge aufzuweisen haben, versteht man unter dem »goldenen Zeitalter« nicht diese Leistungen und nicht die imperiale Macht- und Prachtentfaltung, sondern die erste Hochblüte der Poesie.
 
Seit Peter der Große das »Fenster nach Europa« gewaltsam geöffnet hatte, war in der russischen Sprache und Literatur ein stürmischer Modernisierungsprozess in Gang gekommen, der einen Höhepunkt im Wirken Karamsins erreichte. Seine Sprachreform war in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch umstritten zwischen »Archaisten« und »Neuerern«, bis die Schöpfungen des jungen Puschkin, der von beiden gelernt hatte, den Streit gegenstandslos werden ließ. Übrigens hatte der Streit keine soziale Komponente, denn alle Beteiligten gehörten dem Adel an. Somit war das »goldene Zeitalter« auch ein Produkt der russischen Adelskultur des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts.
 
Diese Adelskultur war weitgehend französisch geprägt, doch machte sich in der Poesie englischer und deutscher Einfluss bemerkbar. Als erste Beispiele einer »modernen« Lyrik gelten Schukowskijs Nach- beziehungsweise Umdichtungen von Grays »Elegy« (1802) und Bürgers »Lenore« (1808). Elegie und Ballade lösten die einst ersten Gattungen Epos und Ode ab, gepflegt wurden die Freundschaftsepistel und andere Kleinformen (»poésies fugitives«). In diesen »leichten« Genres debütierte auch der junge Puschkin. Er war schon als Schüler mit Karamsin, Schukowskij und Fürst Wjasemskij bekannt und wetteiferte im »Lyzeum« von Zarskoje Selo, dem heutigen Puschkin, mit Baron Delwig und Kjuchelbeker in der Kunst des Versemachens. Darin war er bereits mit 16 Jahren technisch perfekt. Nach der Schulzeit übte er sich 1817 bis 1820 als Petersburger »Salonlöwe« unter anderem in politischen Epigrammen, was ihm schließlich eine Strafversetzung einbrachte, vollendete aber auch sein erstes größeres Werk, das Märchenpoem »Ruslan und Ludmilla«. Während des erzwungenen Aufenthalts im Süden (1820-24) lernte er den Kaukasus, die Krim und die Werke Byrons kennen. Es entstanden einige Poeme, die orientalisches Ambiente in wohlklingenden Versen darboten und Puschkin sofort berühmt machten. Gleichzeitig setzte sich Wjasemskij theoretisch für die Romantik ein, traten Delwig und sein Freund Baratynskij mit klassisch vollendeten Mustern von Bukolik und Gedankenlyrik hervor, und der Dorpater Student Jasykow überraschte mit schwungvollen Trinkliedern, die an den Husarendichter Dawydow erinnern, aber auch mit Erlebnisdichtung in Elegienform.
 
Währenddessen wurde Puschkin, im August 1824, vom Zaren auf das kleine Gut seiner Mutter im Gouvernement Pskow verbannt. Dort vollendete er die im Süden begonnenen »Zigeuner«, führte den Versroman »Eugen Onegin« weiter, schrieb das Drama »Boris Godunov« und bereitete die erste Buchausgabe seiner Gedichte vor. Sie erschien 1826. Kurz zuvor war Alexander I. gestorben. Im Dezember (russisch »dekabr'«) 1825 kam es beim Regierungsantritt Nikolaus' I. zum Putschversuch der »Dekabristen«. Unter den fünf gehenkten Rädelsführern war der Dichter Rylejew, unter den etwa 200 Verbannten waren viele Freunde Puschkins, darunter Kjuchelbeker. Im September 1826 holte der neue Zar Puschkin nach Moskau, hob die Verbannung auf und erklärte sich selbst zum Zensor Puschkins, der durch diese Gnadenerweise zeitlebens in ein schwieriges Verhältnis sowohl zum Zaren als auch zu alten Freunden geriet. Durch die Ausschaltung der Dekabristen war die Generation gleichaltriger Adliger geschwächt. Andere Schichten drängten nach vorn, während zugleich die Zahl der Leser von Literatur sprunghaft anstieg. Als Delwig 1830 die Literaturzeitung »Literaturnaja gaseta« gründen durfte, hatte sie als Organ der »Aristokraten« einen schweren Stand gegenüber anspruchsloseren Presseorganen und ging 1831, nach Delwigs frühem Tod, alsbald ein. Im gleichen Jahr heiratete Puschkin und wandte sich zunehmend der Prosa und der Geschichtsschreibung zu.
 
Kurz zuvor, im Herbst 1830, hatte Puschkin, durch eine Choleraquarantäne im Dorf Boldino im Gouvernement Nischnij Nowgorod festgehalten, den Gipfel seiner Schaffenskraft erreicht. Er schrieb in diesem Jahr unter anderem ein weiteres Poem, vier kleine Tragödien, »Die Erzählungen Belkins« und beendete 1832 seinen Roman in Versen »Eugen Onegin«. 1833 entstanden in Boldino das Poem »Der eherne Reiter« und die Novelle »Pique Dame«. Die Jahre danach sind gekennzeichnet durch die wachsende Familie, wachsende Schulden, wachsende Misshelligkeiten im Verhältnis zum Zaren, wachsendes Unverständnis der Kritik und der vornehmen Gesellschaft und als Folge von alldem zunehmende Reizbarkeit des Dichters. 1836 konnte er die literarische Zeitschrift »Sowremennik« (= Der Zeitgenosse) begründen und eine historische Arbeit über den Aufstand Pugatschows veröffentlichen - beides finanzielle Misserfolge. Im Oktober 1836 wurde der historische Roman »Die Hauptmannstocher« abgeschlossen; ein Gedichtzyklus und die »Geschichte Peters des Großen« blieben unvollendet. Denn Anfang November tauchten anonyme Briefe auf, die Puschkin und seine Frau beleidigten. Daraus entwickelte sich eine nicht bis ins Letzte geklärte Affäre, die schließlich zum Duell zwischen Puschkin und Baron d'Anthès führte. Das Duell fand am 8. Februar 1837 statt, Puschkin wurde verletzt und starb zwei Tage später. Mit seinem Tod begann sein Ruhm. Als Schukowskij von 1838 an eine neunbändige Werkausgabe herausbrachte, erkannte auch der einflussreiche Kritiker Belinskij, wen man verloren hatte. 1855 erschien die erste historisch-kritische Ausgabe, 1880 wurde in Moskau das erste Puschkindenkmal mit einer fulminanten Rede Dostojewskijs eingeweiht, und seit 1887 gehen die Auflagen von Puschkinwerken in Millionenhöhe. Die etwa gleichzeitig einsetzende Wiedergeburt der Poesie entdeckte die Puschkinzeit, in die neben den genannten Dichtern auch Gneditsch, Batjuschkow und Gribojedow gehören, als das »goldene Zeitalter« und empfand sich selbst als »silbernes«.
 
Anders als die durch freundschaftliche Bande miteinander verbundenen Dichter der »Puschkinschen Plejade« waren die etwa gleichaltrigen großen romantischen Lyriker Tjuttschew und Lermontow Einzelgänger. Beide haben übrigens, ebenso wie der 1842 verstorbene erste russische Bauerndichter Kolzow, eindrucksvolle Gedichte auf Puschkins Tod geschrieben, die ersten von Tausenden, die folgen sollten - und bis heute entstehen. Das Phänomen des »goldenen Zeitalters« der russischen Poesie hat - ungeachtet des spanischen »Siglo de oro« und des polnischen »Złoty wiek« im 16. Jahrhundert - keine Parallelen in der Geschichte der Weltliteratur. Und es bleibt, vor allem außerhalb Russlands, präsent und wirkungsmächtig einzig durch die klassischen Werke Puschkins. Deshalb wäre es gerechtfertigt, als Grenzen dieser »Kunstperiode« auch die Lebensdaten ihres größten Autors zu nennen: 1799 bis 1837. Wegen der unterschiedlichen Rolle, die die Poesie in Russland und im Westen spielt, ist Puschkin uns meist nur indirekt bekannt, nämlich durch Umsetzung seiner Werke in andere Künste. Man denke an die Opern »Eugen Onegin«, »Pique Dame« und »Boris Godunov«, an die Verfilmungen des »Postmeisters« oder die Bearbeitungen von Puschkins kleiner Tragödie »Mozart und Salieri« durch Peter Shaffer beziehungsweise Miloš Forman - an das Drama und den Film »Amadeus«.
 
Prof. Dr. Rolf-Dietrich Keil
 
 
Stender-Petersen, Adolf: Geschichte der russischen Literatur. Aus dem Dänischen. München 51993.
 Tschižewskij, Dmitrij: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 2 Bände. München 1964—67. Band 1 Nachdruck München 1977.

Universal-Lexikon. 2012.

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